E
in starker Wind fegte über die Anhöhen hinweg,
und dicke Regentropfen klatschten gegen die Felsen. Enrico und sein
Vater waren bis auf die Knochen durchnäßt, aber daran ließ sich
nichts ändern.
Daß es den Ordenssoldaten nicht besserging, war für
die beiden kein Trost. Die Abenddämmerung setzte
ein, und zwischen den Felshöhen verschwand schon
das letzte Tageslicht. Wie Kreaturen der Nacht lösten
sich schemenhafte Gestalten von den Umrissen der
Felsen unterhalb von Vater und Sohn, um sich in geduckter Haltung,
jede Deckung nutzend, den Hang
heraufzuarbeiten.
»Sie starten den nächsten Angriff«, sagte Enrico,
der über die Kuppe eines knapp mannshohen Felsens
spähte. »Sie ahnen es noch nicht, aber diesmal werden
sie erfolgreich sein.«
»Ist die Munition verbraucht?« fragte Lucius, der sich so zwischen
zwei Felsen gesetzt hatte, daß er wenigstens halbwegs vor dem
scharfen Wind geschützt war.
Enrico blickte zu der Automatik hinunter, die nutzlos neben ihm auf
dem Boden lag. »Bis zur letzten Patrone. Klingt wie der Titel eines
Kriegsfilms, nicht?«
»Wir führen einen Krieg, und du hast dich als mutiger und kluger
Soldat erwiesen, mein Sohn. Fast drei Stunden lang hast du die
Übermacht aufgehalten, ohne einen Feind zu töten oder zu
verletzen.«
»Hoffentlich Zeit genug für Elena, Francesco und den
Gardisten.«
»Sie werden sicher entkommen. Ich habe für sie gebetet.«
»Hast du auch für uns gebetet?« fragte Enrico und dachte an das,
was vor ihnen lag.
Er bemühte sich, tatsächlich so mutig zu sein, wie sein Vater und
bei ihrem Abschied auch Elena es von ihm behauptet hatten. Aber
das, was Lucius und er tun mußten, erschreckte ihn, weil es so
endgültig war. Wäre sein Vater nicht an seiner Seite gewesen, hätte
ihn der Mut vielleicht verlassen.
Lucius erhob sich und umarmte seinen Sohn. »Ich habe auch für uns
gebetet, damit Gott uns zur Erledigung der Aufgabe, die vor uns
steht, mit Kraft, Mut und Weisheit segnet. Vertrau dem Herrn,
Enrico, er wird uns beistehen!«
Die schemenhaften Gestalten kamen näher, aber sie bewegten sich
sehr langsam voran in der Erwartung, jeden Augenblick erneut
beschossen zu werden. Erst auf den letzten Metern wurden sie
schnell, nachdem ein paar kurze Kommandos hin und her geflogen
waren. Sie stürmten heran, umzingelten Vater und Sohn und bedrohten
sie mit ihren Waffen.
»Warum habt ihr nicht mehr geschossen?« fragte ein hagerer Mann,
den der weiße Krebs auf der linken Schulter als Ordensoffizier
auswies; es war Ambrosio, den Enrico im Kloster San Gervasio als
stoischen Koch kennengelernt hatte.
»Keine Munition mehr«, sagte Enrico und deutete auf die
leergeschossene Waffe zu seinen Füßen. »Wo sind die anderen?«
fragte Ambrosio, nachdem er die Waffe an sich genommen
hatte.
»Nicht hier.«
»Das sehe ich. Wo sind sie?«
»Keine Ahnung.«
»Und Giuseppe? Er wollte euch den Weg abschneiden.«
Enrico zeigte zu dem großen Felsen, auf dem Giuseppe gestorben war
und der sich jetzt als dunkler Koloß nur noch umrißhaft aus der
Dämmerung hervorhob.
»Der liegt dahinten. Tot.«
»Wer hat ihn getötet?«
Nun antwortete Lucius: »Ein mutiger Mann und pflichtbewußter
Soldat.«
Ambrosio, der offensichtlich den Befehl führte, ließ seine Männer
die nähere Umgebung absuchen, um festzustellen, ob die anderen
Flüchtlinge sich hier versteckten. Nach zehn Minuten brach er die
Suche ab und befahl, Giuseppes Leiche zu den Fahrzeugen zu bringen.
Lucius und Enrico mußten sich dem Trupp anschließen. Zwei
Ordenssoldaten stützten Enrico, dem jeder Schritt Höllenqualen
verursachte.
Nach ungefähr zwanzig Minuten erreichten sie die inzwischen
vollkommen dunkle Talsohle, wo mehrere schwere Geländewagen
warteten.
Enrico und Lucius mußten in verschiedene Fahrzeuge einsteigen,
jeder von ihnen streng bewacht, dann ging es zurück zum Lager von
Totus Tuus. Enrico dachte an das Bevorstehende und versuchte,
innere Ruhe zu finden, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Er
schloß die Augen, faltete die Hände und begann zu beten.